(Diese Einleitung und Story ist aus dem Handbuch!)
Die Vorgeschichte
Winwood, die Hauptfigur von FATE - Gates of Dawn ist ein
Mann in den besten Jahren und stolzer Besitzer eines kleinen
Plattenladens in der fünften Straße. Sein Geschäft kann nicht
gerade als eine Goldgrube bezeichnet werden und da Winwood
jede Mark gebrauchen kann, ist der Laden so oft und so
lange wie möglich geöffnet. Eines Nachmittags jedoch wurde
er von einer bleiernen Müdigkeit befallen. Kaum noch fähig,
seine Augen offen zu halten, schloß er seinen Laden, legte
sich auf sein altes Sofa und glitt sanft in Morpheus Arme.
Gerade eingeschlafen, wurde Winwood in eine Welt düsterer
Alpträume gesogen. Lichtblitze sausten an ihm vorbei, Bilder
erschienen vor seinen Augen, nur, um im nächsten Augen-
blick wieder zu verschwinden. Plötzlich wurde er von einer
gähnenden Leere eingefangen. Langsam trieb er auf einen
alten, seltsam gekleideten Mann zu. Um den alten Mann
herum formte sich ein Kellergewölbe, und als Winwood
näher herantrieb, erkannte er eine merkwürdige Zeichnung,
über der der alte Mann stand.
Schweiß tropfte von der Stirn des Greisen, während er langsam
magische Gesten mit seinen Händen vollführte. Die
Gestalt flüsterte fremde Worte - und plötzlich begann die
Zeichnung in einem dunklen Rot zu glühen. Sie leuchtete immer heller, Funken und kleine
Blitze entwichen in die Dunkelheit. In der Zeichnung entstand
das verschwommene Bild eines Mannes, der hilflos im Nichts
trieb. Winwood erschrak - dieser hilflose Mann war er selbst!
Der alte Mann sprach ein magisches Wort und verschwand
samt Kellergewölbe vor Winwoods Augen. Abermals wurde er
von Finsternis eingehüllt. Minuten wurden zu Stunden. Langsam kroch eine lähmende Kalte seinen Körper hinauf. Er konnte seine Arme und Beine nicht mehr fühlen. Dann
erreichte die Kälte seinen Kopf. Winwood fiel in einen tiefen,
traumlosen Schlaf.
Als er erwachte, befand er sich zu seinem Erstaunen nicht
auf seinem Sofa, sondern in einem spärlich möblierten Zim-
mer. Das Holzbett, auf dem er lag, war mit einem schmutzigen
Laken überzogen. An einer Wand des Raumes stand ein reich
verzierter Schrank, der wie eine teure Antiquität aussah aber
keineswegs so alt zu sein schien. Auf der anderen Seite des
Zimmers entdeckte er eine einfache Holztruhe, auf der einige
Kleidungsstücke lagen, die aus einem Film über das Mittelalter
zu stammen schienen. Da Winwood in einem alten, vergilbten
Nachthemd erwacht war, blieb ihm nichts anderes übrig, als
diese Kleidung anzuziehen, die ihm - obwohl er seinen Bauch
beim Anziehen der Hose einziehen mußte - dann hervorragend
paßte.
Winwood - kein Kind von Traurigkeit - begann sofort, das
Zimmer näher zu untersuchen. Es war ein äußerst schmutziger
Raum, der zu alledem auch noch mit Wanzen verseucht schien
(einige verräterisch juckende Stellen an seinem Körper ließen
ihn dieses vermuten). Seine Fantasie half ihm, sich recht
schnell mit seiner seltsamen räumlichen Umgebung abzufinden. Die Vorstellung, daß der Raum, in dem er gerade stand, nicht nur weit weg von seinem Plattenladen zu sein schien,
sondern er auch noch offenbar in das 16. Jahrhundert versetzt
worden war, konnte ihm keinen größeren Schock versetzen.
Als Winwood dann aus dem Zimmer trat und dem Gang
folgte, in den die Tür mündete, gelangte er ohne Umwege in
den Schankraum einer Herberge Er stand auf dem obersten
Absatz einer ausladenden, rustikalen Treppe und konnte jeden
Winkel der verräucherten Schankstube überblicken. Winwood
blickte auf eine Szene hinunter, die in jedem Mantel-und-
Degen-Film für Furore gesorgt hätte. Die abenteuerlichsten
Gestalten lungerten um grobe Tische herum und zechten, was
das Zeug hielt. Winwood, der einige Münzen, augenscheinlich
sogenannte Piaster, in dem neuen Gewand gefunden hatte,
dachte, daß es das Beste sei, sich ein wenig unter das Volk zu
mischen, um auf diese Weise zumindest einen Anhaltspunkt
dafür zu finden, wo er war. Schon bald hatte er einen Tisch
erspäht, an dem, wie ihm schien, nicht nur Halsabschneider
saßen, und er gesellte sich zu der dort tafelnden Gruppe. Zunächst hörte er
nur zu dann schaltete er sich vorsichtig in das
Gespräch ein und nach einigen Runden des würzigen Bieres
wußte Winwood so ungefähr, wo er war. In der Tat war er in
derselben Gegend wieder aufgewacht, in der sich auch sein
Plattenladen befunden hatte. Auch schrieb man nicht etwa das
Jahr sechzehnhundertwieauchimmer, wie er vermutet hatte,
sondern 1932. Das Problem war nur, daß die Welt, in der er
sich befand, nicht die Erde war, die er kannte. Vielmehr war
dies ein Ort, der seiner Erde zwar sehr ähnlich war, in dessen
Geschichte und technischer Entwicklung aber vieles anders
verlaufen war. Obwohl man das Jahr 1932 schrieb, war von
Autos und ähnlichen Maschinen nichts zu sehen. Die Elektrizi-
tät war nicht entdeckt worden; dafür hatten Alchemisten und
Magier Hochkonjunktur, denn in dieser Welt funktionierte die
Zauberei ausgezeichnet. Und wie auf unserer Erde Chemie,
Physik und Mathematik in Formeln und Lehrsätzen ausge-
drückt und dargestellt werden, so geschah dies in jener ande-
ren Welt mit der Magie.
Insbesondere die Magiergilde am Hofe des Sultans Sulei-
man, der vor 300 Jahren das Osmanische Reich regierte,
hatte sich um die Lehrsätze der Magie verdient gemacht.
Sie waren es, die die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Magie
entdeckten und niederschrieben. Diese Magie ermöglichte es
Suleiman, die Stadt Wien zu belagern und einzunehmen. In
Winwoods Welt war dieser Eroberungszug gescheitert. Suleiman gelang es, die eroberte Stadt zu halten, und seine weise
Regierung führte das Osmanische Reich zu bisher ungeahnter
Blüte.
Auch die Bewohner dieser anderen Welt unterschieden sich
von der Bevölkerung der Erde. Neben den Menschen gab es
noch viele andere intelligente und zivilisierte Rassen, die größtenteils in Eintracht miteinander lebten. Winwood dachte, daß er für das erste genug erfahren hatte
und verließ, nachdem er bezahlt hatte, die Herberge...
Er war nur wenige hundert Meter weit
gegangen, als er aus der Ferne eine Gruppe Reiter heranpreschen sah. Irgendwie
beschlich ihn das Gefühl, daß es eine gute
Idee sei, sich von den Reitern nicht sehen
zu lassen, und so schlug er sich seitlich in
die Büsche und verhielt sich erst einmal
ruhig. Die Reiter galoppierten an ihm vorbei, und kurze Zeit später hörte er aus der
Richtung, in der die Herberge lag, einige
Schüsse. Wenig später wälzte sich eine
dicke, ölige Rauchwolke über den Hügel,
der die Sicht auf die Herberge verdeckte.
Nachdem Winwood sicher war, daß die Reiter wieder verschwunden waren, wagte er sich zurück zur Herberge. Die Reiter hatten ein grausames
Blutbad angerichtet und alle Gäste - auch die, mit denen er eben noch gezecht hatte, niedergemetzelt. Durch ein Stöhnen wurde er auf einen Mann aufmerksam, der noch lebte, aber schwer verletzt war. Von dem Sterbenden erfuhr er, daß die Reiter die Leibgarde des Magiers Thardan waren. Sie hätten einen Mann gesucht, den sie als
"Weltenwanderer" bezeichneten. Dies waren die letzten Worte
des Mannes.
In Winwoods Kopf begann sich eine vage Theorie zu entwickeln. Wenn Thardan jener alte Mann gewesen war, den er
in seinem Traum über der magischen Zeichnung kauernd
gesehen hatte und er ihn mit Absicht aus seiner Welt entführt
hatte, was führte dann dieser Thardan im Schilde? Winwood mußte die Antworten zu diesen Fragen finden, wenn er je wieder in seine eigene Welt zurückkehren wollte. Und das, da war er sich sicher, wollte er!
Jedoch hielt Winwood es einstweilen für ratsamer, sich in
den Büschen zu verstecken, denn immerhin konnte niemand
sagen, ob die Reiter, nachdem sie Thardan unter die Augen
getreten waren, nicht zurückkehren würden, um noch einmal
nach ihm zu suchen. In der Krone einer nahegelegenen Eiche
baute sich Winwood einen Unterschlupf aus Ästen und Blättern, von dem er unentdeckt die Ruinen des Gasthauses im
Auge behalten konnte. In seinem Versteck dachte Winwood
weiter über die seltsamen Umstände nach, die ihn hierher
gebracht hatten. Inzwischen schien es für ihn zumindest einen
Anhaltspunkt dafür zu geben, warum er hier war. Es hatte
etwas mit diesem Thardan zu tun. Dieser Weltenwanderer
mußte er selbst sein, aber er war keinesfalls aus freien
Stücken in diese Welt gekommen. Konnte es also sein, daß
Thardan ihn mittels seiner offenbar vorhandenen magischen
Fähigkeiten hierher gebracht hatte? Wenn dies wirklich zutraf,
was erhoffte sich Thardan dann von seiner Anwesenheit in dieser Welt?
Über all diesen Gedanken war der Nachmittag zum Abend
geworden und die ersten Anzeichen der Dämmerung zogen
am Horizont hinauf. Obwohl Winwoods Versteck nicht gerade
bequem war, schlief er ein. Wieviel Uhr es war, als er wieder
erwachte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, auch vermochte er nicht zu bestimmen, was das eben für ein Schrei
gewesen war, der ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte. Im
fahlen Mondlicht glaubte er, bleiche Gestalten in der Ruine des
Gasthauses umherschleichen zu sehen. Schnüffelnde Laute
wie von einer Horde stöbernder Tiere hallten durch die Dunkelheit. Schmatzen und Knacken gesellten sich zu dem
Schnüffeln und wurden durch einen grellen, triumphierenden
Schrei gekrönt. Ein Schrei, dessen Klang den Inbegriff aller
tierischen Bosheiten widerspiegelte. Winwood lief es kalt über
den Rücken und er hoffte, daß diese schreiende Kreatur nicht
auch noch klettern konnte. Das Schmatzen, Knacken und
Schnüffeln dauerte den Rest der Nacht an und endete erst mit
den ersten Anzeichen der Morgendämmerung. Aber auch als
der Tag schon vollends angebrochen war, wagte sich Winwood nicht von seinem Baum. Was immer sich letzte Nacht in
der Ruine herumgetrieben hatte, mochte sich vielleicht noch
hier in der Gegend aufhalten, und er hatte nicht die geringste
Lust, einem solchen Wesen zu begegnen.
Von seinem Baum aus konnte Winwood auch die Landstraße überblicken, die an dem Gasthaus vorbeiführte. Mitten
auf dieser Straße, noch eingehüllt in einigen tiefhängenden
Schwaden Morgennebels, ritt ein Mann auf die Ruine zu. Den
Verdacht, daß dieser Reiter auch in den Diensten Thardans
stehen könnte, vermochte Winwood, angesichts der Ruine vor
ihm, nicht aus seinen Gedanken zu verdrängen, trotzdem
erleichterte ihn dessen Auftauchen. Der Reiter erreichte die
geschwärzten Ruinen und verschwand dazwischen. Kurze Zeit
später tauchte er wieder auf, schwang sich auf sein Pferd und
schickte sich an, weiterzureiten. Nun hielt Winwood es nicht
länger aus und kletterte so schnell er konnte über die knorrigen Äste der Eiche aus seinem Versteck. Mit beiden Armen
winkend rannte er auf den Reiter zu. Während er dessen Pferd
hinterherrannte, erhaschte er einen Blick auf das Innere der
Ruine.
Der flüchtige Eindruck, den er durch diesen Blick gewann,
sollte ihn noch lange Zeit im Traum verfolgen. Das von
Thardans Schergen verursachte Gemetzel war von irgendwem
oder irgendetwas als eine Einladung angesehen worden. Keine
der Leichen war noch dort, wo sie am Vortag gelegen hatte. In
der Mitte der Ruine erhob sich ein Berg aus Knochen, die in
der Morgensonne fettig zu glänzen schienen und an einigen
Stellen noch rot und feucht schimmerten. Die Basis dieses
Knochenhaufens wurde von einem Ring aus Schädeln gebildet, denen allesamt der Oberkopf zerschmettert worden war.
Winwood fröstelte und rannte weiter winkend und rufend
hinter dem Reiter her, der nun endlich Notiz von ihm zu nehmen schien. Er stoppte sein Pferd und drehte sich halb im Sattel um. Erstaunt registrierte Winwood, daß der Mann nicht
nach dem gefährlich ausschauenden Rapier griff, das von seiner Hüfte baumelte. Leicht außer Atem hielt Winwood etwa
zehn Meter vor dem Reiter an, blickte diesem geradeaus ins
Gesicht und stellte sich vor. Der Mann auf dem Pferd hatte die
besten Tage seines Lebens wohl schon hinter sich. Unter
einem breitkrempigen Hut aus dunkelgrünem Filz, der mit
einer ausladenden weißen Feder verziert war, quoll eine Flut
gewellten grauen Haares hervor, das dem Mann wie eine
weiße Löwenmähne über die Schultern reichte. Das linke
Auge wurde durch eine schwarze Augenklappe verdeckt.
Unter dem braunen Umhang, den der Fremde trug, konnte
Winwood einen schwarzen Lederanzug mit vielen kleinen
Taschen erkennen.
Nachdem Winwood dem Reiter von dem blutrünstigen
Überfall auf die Taverne erzählt hatte, dabei jedoch den
Umstand seiner erstaunlichen Reise verschwieg, fuhr dieser
sich mit der behandschuhten Rechten durch seinen voluminösen, ausladenden grauen Bart und nickte. Ohne ein Wort zu
sagen, bedeutete der Grauhaarige Winwood, ihm zu foIgen,
wendete sein Pferd und ritt langsam voraus. Winwood folgte
ihm klaglos. Auch als sie wenig später von der Straße abbogen und sich auf verschlungenen Pfaden durch das Unterholz
kämpften, sagte Winwood kein Wort.
Nach einer langen Wegstrecke durch dichten Wald gelangten sie zu einem ausgedehnten Talkessel, der unvermittelt vor
ihnen auftauchte. Der Kessel mochte vielleicht drei Kilometer
durchmessen und hatte fast exakt die Form eines Kreises. In
der Mitte des Kessels erstreckte sich ein Wald, der schon aus
dieser Entfernung sehr dicht und dunkel aussah. Aus diesem
Wald erhob sich eine schroffe Klippe, die auf der Ostseite fast
bis zu ihrer Spitze mit Gehölz bedeckt war. Auf den anderen
Seiten fielen die Felswände steil und glatt ab. Die Spitze dieser
Klippe, die flach und bewaldet war, ragte nicht über die den
Talkessel umgebenden Wälder und Felswände hinaus. Man
konnte diesen Ort nur aus der Luft finden, oder wenn man den
Weg dorthin genau kannte. Wenn man sich verstecken wollte,
dann war dies der richtige Ort.
Der folgende Abstieg in den Kessel erwies sich als regelrechte Klettertour, aber trotz des gefährlichen Weges stieg der
Grauhaarige nicht von seinem Pferd, welches jeden Tritt mit
instinktiver Sicherheit fand. Sie durchquerten den Kessel und
betraten den Wald. Stetig ansteigend hob sich der Waldboden
dem Fuß der Klippe entgegen. Der Alte schlug einen kaum
sichtbaren Pfad ein, der sich in östlicher Richtung durch den
dichten, uralten Baumbestand wand. Der Weg führte sie zu der
östlichen Seite der Klippe. Immer öfter
brach die Humusschicht des Bodens
auf, um den Blick auf weißes Kalkgestein freizugeben. Je höher sie stiegen,
desto lichter wurden die Baumkronen,
und das letzte Stück Weg hinauf zum
Klippenplateau führte über einen schmalen, steilen und unbewachsenen Grat.
Das Plateau war nicht groß und auch
nicht ganz eben, aber durch den dichten
Baumbewuchs in seiner Mitte sehr
unübersichtlich. Der Grauhaarige führte
Winwood geradewegs in das dichte
Gehölz, das sich aber schon nach wenigen Schritten ein wenig lichtete. Winwood konnte erkennen, daß mitten auf
dem Plateau, durch den Wald versteckt,
ein alter, wehrhafter Turm stand.
Wie es schien, wohnte der alte Mann
hier. Tatsächlich stieg dieser von seinem
Pferd ab und führte dieses zu einem gemauerten Stall, der sich
seitlich an die Turmwand schmiegte. Er band sein Pferd an die
Mauer des Stalls, setzte seinen Hut ab, blickte an der Außenwand des Turmes hinauf und rief mehrmals laut nach einer
Person namens Jordrak. Daraufhin erschien ein Mann, dessen
Haar ebenfalls grau war. Aber während der Reiter, obwohl er
offensichtlich schon älter war, einen frischen, kräftigen Eindruck machte, ging Jordrak gebeugt. Er begrüßte Winwood
und den Reiter freundlich, ging an dem Grauhaarigen vorbei,
löste den Strick, mit dem das Pferd an die moosige Steinwand
gebunden war und führte es in den Stall. Der Grauhaarige
winkte Winwood, ihm zu folgen und betrat den Turm durch ein
schmales, aber hohes Portal.
Das Innere wurde durch ein Feuer, das in einem großen
steinernen Kamin loderte, erleuchtet und erwärmt. In der Mitte
des Raumes, dessen Boden aus groben Dielen gezimmert war,
stand ein großer Tisch. Hölzerne Bänke dienten als Sitzgelegenheit. Der Rest des Raumes lag im Zwielicht, so daß Winwood bei weitem nicht alles erkennen konnte, was da so an
den Wänden aufgereiht oder aufgehängt worden war. Zumindest konnte er sehen, daß sich gleich neben dem Kamin eine
steinerne Treppe von der Turmwand bis zur Decke emporschwang. Der Grauhaarige bedeutete Winwood immer noch
wortlos, sich zu setzen, dann holte er aus einer der zahllosen
herumstehenden Schränke einen zerbeulten Blechnapf, füllte
diesen mit einer Brühe, die in einem Kessel über dem Kaminfeuer kochte und stellte den Napf zusammen mit einem grossen Stück Brot vor Winwood auf den Tisch.
Dann setzte er sich ihm gegenüber an den Tisch und sagte:
"Mein Name ist Naristos". Und nach einer kleinen Pause: "Und
wie soll ich Dich, den Weltenwanderer, nennen?" Winwood, der
erst angesichts der heißen, duftenden Suppe gemerkt hatte,
wie groß sein Hunger war, verschluckte sich beinahe bei diesen
Worten. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er Naristos mit
großen Augen an und fragte: "Was wissen Sie darüber?"
"Mehr als mir lieb ist. Als ich heute an der Herberge, oder an
dem, was davon übrig geblieben ist, vorbeiritt, war ich auf der
Suche nach Dir."
"Dann haben Sie bestimmt schon einmal etwas von einem
gewissen Thardan gehört?" Kaum war dieser Name gefallen,
verfinsterte sich Naristos Miene. "Wenn es in dieser Welt etwas
gibt, was Dich hierher geholt haben könnte, dann Thardan."
"Aber warum?" fragte Winwood.
"Ich glaube, es ist an der Zeit, Dir einige Erklärungen für
einige recht sonderbare Ereignisse zu geben. Sicherlich wirst
Du vieles von dem, was ich Dir nun erklären werde, spontan
als Unsinn bezeichnen, doch bitte ich Dich, Deinen Unglauben
erst einmal für Dich zu behalten und meine Geschichte bis zum
Schluß anzuhören."
"Nun...", erwiderte Winwood, "ich wurde aus einem Mittagsschlaf in eine fremde Welt versetzt, das erweitert den Horizont ungemein."
Ein wenig verwirrt durch die spontane Redewendung, die
Winwood gebraucht hatte, schüttelte der Grauhaarige den
Kopf. Aber als Winwood nichts weiter sagte, fuhr er sich mit
der Hand durch den Bart und begann zu erzählen.
"Wie Du als Reisender zwischen zwei Welten selbst schon
feststellen konntest, gibt es mehr als eine Welt, die die Menschen, die darauf leben, Erde nennen. Alle diese Welten existieren auf eine für uns unbegreifliche Art nebeneinander, vielmehr sogar an ein und derselben Stelle, ohne sich nahe zu
kommen oder einander gar zu berühren. Es ist sogar unmöglich, von einer Welt auch nur irgendeine andere Welt namens
Erde zu sehen. Auch wenn man ein Teleskop bauen würde,
das durch das ganze Universum spähen könnte, würde die
Suche ergebnislos verlaufen. Und doch gibt es Tore, durch die
man zu anderen Welten gelangen kann. Aber diese Tore darf
man sich nicht etwa wie einfache Türen vorstellen, die jedermann öffnen kann. So wie jede Welt sich auf irgendeine Art
und Weise von allen anderen unterscheidet, so sind auch die
Methoden, mit denen ein Weltentor geöffnet werden kann, von
Welt zu Welt verschieden. Es gibt Welten, in denen die Zeit
langsamer verstreicht als hier bei uns, in anderen hat die
Geschichte die sonderbarsten Entwicklungen hervorgebracht.
Aber auf irgendeine sonderbare Weise stehen alle Welten in
einem eigenartigen Wechselspiel zueinander. Was hier Märchen, Sage oder Legende ist, ist anderswo Geschichte. Sicherlich tauchen viele unserer geschichtlichen Helden und Unholde
in anderen Welten als Märchen auf. Jedem Wanderer, der eine
neue Welt betritt, haftet vieles aus seiner alten Heimat an -
keine Dinge, die mit Augen gesehen oder mit Händen gefühlt
hätten werden können, und trotzdem sind sie gegenwärtig."
Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort. "Zu allen Zeiten
haben sich Menschen mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln bemüht, das Rätsel der Tore, der Welten und der Weltenwanderer zu entschleiern. Hier in dieser Welt sind schon
einige Male Menschen einer anderen Erde gewesen, doch sie
sind nicht wie Du in ein paar Fetzen gehüllt vom Baum
gesprungen. Sie kamen in schwebenden Kugeln, die leuchteten, als seien sie von tausend Kerzen erhellt. Sie notierten,
beobachteten, registrierten und verschwanden wieder. Niemals
hatte jemand Nachteil oder gar Schaden durch ihr Auftauchen.
Aber das, was Dir wiederfahren ist, kann nicht ihr Werk gewesen sein. Das war das Werk eines Bewohners dieser Welt. Es
könnte sein, daß jemand Dich hierher brachte, um das, was
Du aus Deiner Welt mitbrachtest, für sich zu benutzen. Sicherlich hätte dieser Jemand Dich gleich in Ketten gelegt, wenn er
Deiner habhaft geworden wäre. Aber da scheint ja glücklicherweise einiges schief gegangen zu sein."
Der Alte schien seine Erzählung beendet zu haben, denn er
hatte die Hände vor sich auf den Tisch gefaltet und blickte
hinüber zu Winwood.
"So unglaubwürdig hört sich das doch gar nicht an" sagte
er. "Nur die Sache mit diesem unsichtbaren Etwas, das Reisende zwischen den Welten bei sich tragen, verstehe ich nicht so ganz."
"Nun, in unserer Welt gibt es Elementargeister, Trolle,
Feen, Wiedergänger und viele andere Dinge und Wesen, die in
Deiner Welt nur als Legenden und Märchen existieren. Magie
ermöglicht es, viele dieser Wesen und Kräfte zum eigenen Vorteil einzusetzen. So gibt es hierzulande zwar eine Eisenbahn,
die wird aber nicht durch eine Dampfmaschine angetrieben. In
der Lokomotive ist ein Elementargeist eingeschlossen, dessen
Kraft sie antreibt. Würdest du versuchen, eine Lokomotive zu
bauen, die mit einer Dampfmaschine wie du sie kennst angetrieben wird, Du würdest keinen Meter weit kommen. Das
Wasser würde heiß werden und verdampfen, aber der Dampf
würde keinen Druck entwickeln. Genauso kannst Du hierzulande zwar Schwarzpulver mischen, das zischt und knallt, aber
Schießpulver würde bei keinem Mischverhältnis daraus. Mit
dem, was Du aus Deiner Welt mitbrachtest, kann Thardan
viele Dinge bauen, die sonst nie funktionieren würden."
"Wer ist denn dieser Thardan überhaupt?" fragte Winwood
etwas unbehaglich.
Die Miene des Alten verfinsterte sich erneut, als er die
Frage von Winwood vernahm. "Das ist eine sehr schwierige
Frage, die Du mir da stellst. Niemand hat diesen Magier je zu
Gesicht bekommen, jedenfalls niemand, der noch am Leben
ist. Dennoch ist er in seltsamer Weise für alle Bewohner unserer Welt stets gegenwärtig. Er verfügt über eine unglaubliche
magische Macht, mit der er alle Wesen unter seiner ständigen
Kontrolle hält. Und alle Kreaturen, die sich jemals gegen ihn
aufgelehnt haben, mußten dies sehr bitter bereuen. Er
erscheint zwar nie persönlich, doch verfügt er, über eine riesige, unerschöpfliche Armee von Schergen, die er mit seinen
magischen Fähigkeiten erschaffen hat."
Mit einem langen Blick auf Winwood, der sich immer unbehaglicher fühlte, fuhr er fort. "Wie Du siehst, befindest Du Dich
in sehr großer Gefahr. Über kurz oder lang wird Thardan erfahren, wo Du Dich befindest. Und falls er Deiner habhaft werden
sollte, könnte dies sowohl für Dich, als auch für uns schreckliche Konsequenzen haben."
Winwood überkam der unbändige Wunsch, sich irgendwo
zu verstecken und zu warten, bis dieser schreckliche Alptraum
zu Ende wäre. Er gab sich einen Ruck und wandte sich wieder
an Naristos. "Aber was kann ich tun, um wieder zurück in
meine Welt zu kommen?"
"Nun, ich glaube nicht, daß es einen einfachen Weg zurück
gibt", erwiderte Naristos mit einem Bedauern in der Stimme,
"Du bist jetzt ein Teil unserer Welt geworden, so leid es mir
auch tut. Und der einzige, der dies wieder rückgängig machen
könnte, wäre Thardan. Aber ich bezweifle, daß er Dir helfen
würde, jedenfalls nicht freiwillig. Dir wird nichts anderes übrig
bleiben, als die Probleme unserer Welt zu Deinen Eigenen zu
machen. Vielleicht wird es uns mit Deiner Hilfe gelingen, endlich einen Weg zu finden, der es uns ermöglicht, die
Schreckensherrschaft von Thardan zu beenden."
"Aber was kann ich schon ausrichten", erwiderte Winwood
zweifelnd, "Ich bin nur ein normaler Mensch, der sich noch
dazu in einer verzweifelten Lage befindet. Wie soll ich Euch
gegen einen übermächtigen Magier beistehen?"
"Vergiß nicht die geheimnisvolle Kraft, die Du mit auf
unsere Welt brachtest", entgegnete der Alte aufmunternd,
"Wenn Thardan soviel daran liegt, diese Kraft in sich aufzunehmen, dann wird sie Dir vielleicht auch helfen, etwas gegen ihn zu unternehmen."
"Doch nun ist es Zeit für Dich zu gehen", fuhr der Alte fort.
"Du darfst Dich nicht zu lange an einer Stelle aufhalten. Vergiß
niemals, daß Thardan alles tun wird, um Deiner habhaft zu
werden. Seine Schergen sind überall, und wenn Du Dich nicht
vorsiehst, werden sie Dich finden."
"Begebe Dich zuerst nach Larvin und tauche dort unter.
Versuche, einige Gefährten zu finden, denn alleine wirst Du nicht weit kommen
Viel Glück, Winwood!"
Mit diesen Worten verabschiedete sich der
Alte und verließ den Raum. Winwood sah sich
noch einmal um, dann öffnete er die schwere
Eingangstür und trat ins Freie, um sein Schicksal
zu erfüllen.