(Diese Einleitung und Story ist aus dem Handbuch!)

Buch


Fate - Gates of Dawn
Rollenspiele erfreuen sich mittlerweile größter Beliebtheit. Computerbenutzer möchten Spiele, die nicht nur spannend und phantasievoll, sondern ebenso herausfordernd und real sind. Gerade die gelungene Mischung aus Atmosphäre, Story, Kampfsystem und Aufmachung machen ein Spiel dieser Art zu einem Klassiker, der selbst Jahre nach der Erstveröffentli- chung Faszination und Esprit vermittelt.
Oft werden bekannte Rollenspielelemente verbessert, aus- gebaut oder verändert und es entsteht ein Spiel, das zwar Spaß macht jedoch keine neuen Ideen enthält.
Diese innovativen Ideen habe ich bei vielen "neuen" Rollen- spielen vermißt. Bereits 1986 begannen die Entwicklungsar- beiten zu FATE - Gates of Dawn. Auch hier standen klassische Programme Pate (Anmerkung: auch Alternate Reality - The City), doch wurden sowohl Bedienbarkeit und Komplexität der bekannten Funktionen verbessert, als auch neue Ideen realisiert, die sich bisher in keinem anderen Rollenspiel befinden.
Erstmals wird das Spielgeschehen vom Computer systema- tisch geführt. Der Rollenspieler erhält wichtige Informationen erst während des Spiels im Gespräch mit Bewohnern oder Magiern. Mit der Zeit erfährt er von den zahlreichen Rätseln, die es zu lösen gilt. Oft benutzte Frage-Antwort Spiele gibt es nicht - bei FATE - Gates of Dawn muß jedes Rätsel Schritt für Schritt bewältigt werden, bis man in neue Abenteuer gerät.
Da nicht nur Grafik, sondern auch die Programmdaten einen immensen Speicherverbrauch verursachen, gab es manchmal wirklich Probleme, das Programm auch auf Rechnern ohne Speichererweiterung lauffähig zu halten. Dies hat, besonders bei niedrigen Ausbaustufen, häufiges Nachladen zur Folge, das jedoch durch ein verbessertes Ladeverfahren extrem verkürzt wurde. Jederzeit steht der komplette Speicher ohne Betriebssystem oder -daten zur Verfügung. (Anmerkung: dadurch kann man auch nicht zur Workbench - Amigaversion - zurückkehren.) Ist man im Besitz eines Rechners mit großem RAM-Speicher, wird das komplette Spiel bereits vor Spielstart eingeladen und weiteres Nachladen entfällt dadurch völlig.
Doch genug der langen Vorrede, steigen Sie ein in die fan- tastische Welt von FATE - Gates of Dawn und treten Sie in Kontakt mit interessanten Personen, unbekannten Wesen und magischen Kräften.

Die Vorgeschichte
Winwood, die Hauptfigur von FATE - Gates of Dawn ist ein Mann in den besten Jahren und stolzer Besitzer eines kleinen Plattenladens in der fünften Straße. Sein Geschäft kann nicht gerade als eine Goldgrube bezeichnet werden und da Winwood jede Mark gebrauchen kann, ist der Laden so oft und so lange wie möglich geöffnet. Eines Nachmittags jedoch wurde er von einer bleiernen Müdigkeit befallen. Kaum noch fähig, seine Augen offen zu halten, schloß er seinen Laden, legte sich auf sein altes Sofa und glitt sanft in Morpheus Arme. Gerade eingeschlafen, wurde Winwood in eine Welt düsterer Alpträume gesogen. Lichtblitze sausten an ihm vorbei, Bilder erschienen vor seinen Augen, nur, um im nächsten Augen- blick wieder zu verschwinden. Plötzlich wurde er von einer gähnenden Leere eingefangen. Langsam trieb er auf einen alten, seltsam gekleideten Mann zu. Um den alten Mann herum formte sich ein Kellergewölbe, und als Winwood näher herantrieb, erkannte er eine merkwürdige Zeichnung, über der der alte Mann stand.
Schweiß tropfte von der Stirn des Greisen, während er langsam magische Gesten mit seinen Händen vollführte. Die Gestalt flüsterte fremde Worte - und plötzlich begann die Zeichnung in einem dunklen Rot zu glühen. Sie leuchtete immer heller, Funken und kleine Blitze entwichen in die Dunkelheit. In der Zeichnung entstand das verschwommene Bild eines Mannes, der hilflos im Nichts trieb. Winwood erschrak - dieser hilflose Mann war er selbst!
Der alte Mann sprach ein magisches Wort und verschwand samt Kellergewölbe vor Winwoods Augen. Abermals wurde er von Finsternis eingehüllt. Minuten wurden zu Stunden. Langsam kroch eine lähmende Kalte seinen Körper hinauf. Er konnte seine Arme und Beine nicht mehr fühlen. Dann erreichte die Kälte seinen Kopf. Winwood fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als er erwachte, befand er sich zu seinem Erstaunen nicht auf seinem Sofa, sondern in einem spärlich möblierten Zim- mer. Das Holzbett, auf dem er lag, war mit einem schmutzigen Laken überzogen. An einer Wand des Raumes stand ein reich verzierter Schrank, der wie eine teure Antiquität aussah aber keineswegs so alt zu sein schien. Auf der anderen Seite des Zimmers entdeckte er eine einfache Holztruhe, auf der einige Kleidungsstücke lagen, die aus einem Film über das Mittelalter zu stammen schienen. Da Winwood in einem alten, vergilbten Nachthemd erwacht war, blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Kleidung anzuziehen, die ihm - obwohl er seinen Bauch beim Anziehen der Hose einziehen mußte - dann hervorragend paßte.
Winwood - kein Kind von Traurigkeit - begann sofort, das Zimmer näher zu untersuchen. Es war ein äußerst schmutziger Raum, der zu alledem auch noch mit Wanzen verseucht schien (einige verräterisch juckende Stellen an seinem Körper ließen ihn dieses vermuten). Seine Fantasie half ihm, sich recht schnell mit seiner seltsamen räumlichen Umgebung abzufinden. Die Vorstellung, daß der Raum, in dem er gerade stand, nicht nur weit weg von seinem Plattenladen zu sein schien, sondern er auch noch offenbar in das 16. Jahrhundert versetzt worden war, konnte ihm keinen größeren Schock versetzen.
Als Winwood dann aus dem Zimmer trat und dem Gang folgte, in den die Tür mündete, gelangte er ohne Umwege in den Schankraum einer Herberge Er stand auf dem obersten Absatz einer ausladenden, rustikalen Treppe und konnte jeden Winkel der verräucherten Schankstube überblicken. Winwood blickte auf eine Szene hinunter, die in jedem Mantel-und- Degen-Film für Furore gesorgt hätte. Die abenteuerlichsten Gestalten lungerten um grobe Tische herum und zechten, was das Zeug hielt. Winwood, der einige Münzen, augenscheinlich sogenannte Piaster, in dem neuen Gewand gefunden hatte, dachte, daß es das Beste sei, sich ein wenig unter das Volk zu mischen, um auf diese Weise zumindest einen Anhaltspunkt dafür zu finden, wo er war. Schon bald hatte er einen Tisch erspäht, an dem, wie ihm schien, nicht nur Halsabschneider saßen, und er gesellte sich zu der dort tafelnden Gruppe. Zunächst hörte er nur zu dann schaltete er sich vorsichtig in das Gespräch ein und nach einigen Runden des würzigen Bieres wußte Winwood so ungefähr, wo er war. In der Tat war er in derselben Gegend wieder aufgewacht, in der sich auch sein Plattenladen befunden hatte. Auch schrieb man nicht etwa das Jahr sechzehnhundertwieauchimmer, wie er vermutet hatte, sondern 1932. Das Problem war nur, daß die Welt, in der er sich befand, nicht die Erde war, die er kannte. Vielmehr war dies ein Ort, der seiner Erde zwar sehr ähnlich war, in dessen Geschichte und technischer Entwicklung aber vieles anders verlaufen war. Obwohl man das Jahr 1932 schrieb, war von Autos und ähnlichen Maschinen nichts zu sehen. Die Elektrizi- tät war nicht entdeckt worden; dafür hatten Alchemisten und Magier Hochkonjunktur, denn in dieser Welt funktionierte die Zauberei ausgezeichnet. Und wie auf unserer Erde Chemie, Physik und Mathematik in Formeln und Lehrsätzen ausge- drückt und dargestellt werden, so geschah dies in jener ande- ren Welt mit der Magie.

Insbesondere die Magiergilde am Hofe des Sultans Sulei- man, der vor 300 Jahren das Osmanische Reich regierte, hatte sich um die Lehrsätze der Magie verdient gemacht. Sie waren es, die die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Magie entdeckten und niederschrieben. Diese Magie ermöglichte es Suleiman, die Stadt Wien zu belagern und einzunehmen. In Winwoods Welt war dieser Eroberungszug gescheitert. Suleiman gelang es, die eroberte Stadt zu halten, und seine weise Regierung führte das Osmanische Reich zu bisher ungeahnter Blüte.
Auch die Bewohner dieser anderen Welt unterschieden sich von der Bevölkerung der Erde. Neben den Menschen gab es noch viele andere intelligente und zivilisierte Rassen, die größtenteils in Eintracht miteinander lebten. Winwood dachte, daß er für das erste genug erfahren hatte und verließ, nachdem er bezahlt hatte, die Herberge...

Er war nur wenige hundert Meter weit gegangen, als er aus der Ferne eine Gruppe Reiter heranpreschen sah. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, daß es eine gute Idee sei, sich von den Reitern nicht sehen zu lassen, und so schlug er sich seitlich in die Büsche und verhielt sich erst einmal ruhig. Die Reiter galoppierten an ihm vorbei, und kurze Zeit später hörte er aus der Richtung, in der die Herberge lag, einige Schüsse. Wenig später wälzte sich eine dicke, ölige Rauchwolke über den Hügel, der die Sicht auf die Herberge verdeckte. Nachdem Winwood sicher war, daß die Reiter wieder verschwunden waren, wagte er sich zurück zur Herberge. Die Reiter hatten ein grausames Blutbad angerichtet und alle Gäste - auch die, mit denen er eben noch gezecht hatte, niedergemetzelt. Durch ein Stöhnen wurde er auf einen Mann aufmerksam, der noch lebte, aber schwer verletzt war. Von dem Sterbenden erfuhr er, daß die Reiter die Leibgarde des Magiers Thardan waren. Sie hätten einen Mann gesucht, den sie als "Weltenwanderer" bezeichneten. Dies waren die letzten Worte des Mannes.
In Winwoods Kopf begann sich eine vage Theorie zu entwickeln. Wenn Thardan jener alte Mann gewesen war, den er in seinem Traum über der magischen Zeichnung kauernd gesehen hatte und er ihn mit Absicht aus seiner Welt entführt hatte, was führte dann dieser Thardan im Schilde? Winwood mußte die Antworten zu diesen Fragen finden, wenn er je wieder in seine eigene Welt zurückkehren wollte. Und das, da war er sich sicher, wollte er!
Jedoch hielt Winwood es einstweilen für ratsamer, sich in den Büschen zu verstecken, denn immerhin konnte niemand sagen, ob die Reiter, nachdem sie Thardan unter die Augen getreten waren, nicht zurückkehren würden, um noch einmal nach ihm zu suchen. In der Krone einer nahegelegenen Eiche baute sich Winwood einen Unterschlupf aus Ästen und Blättern, von dem er unentdeckt die Ruinen des Gasthauses im Auge behalten konnte. In seinem Versteck dachte Winwood weiter über die seltsamen Umstände nach, die ihn hierher gebracht hatten. Inzwischen schien es für ihn zumindest einen Anhaltspunkt dafür zu geben, warum er hier war. Es hatte etwas mit diesem Thardan zu tun. Dieser Weltenwanderer mußte er selbst sein, aber er war keinesfalls aus freien Stücken in diese Welt gekommen. Konnte es also sein, daß Thardan ihn mittels seiner offenbar vorhandenen magischen Fähigkeiten hierher gebracht hatte? Wenn dies wirklich zutraf, was erhoffte sich Thardan dann von seiner Anwesenheit in dieser Welt?
Über all diesen Gedanken war der Nachmittag zum Abend geworden und die ersten Anzeichen der Dämmerung zogen am Horizont hinauf. Obwohl Winwoods Versteck nicht gerade bequem war, schlief er ein. Wieviel Uhr es war, als er wieder erwachte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, auch vermochte er nicht zu bestimmen, was das eben für ein Schrei gewesen war, der ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte. Im fahlen Mondlicht glaubte er, bleiche Gestalten in der Ruine des Gasthauses umherschleichen zu sehen. Schnüffelnde Laute wie von einer Horde stöbernder Tiere hallten durch die Dunkelheit. Schmatzen und Knacken gesellten sich zu dem Schnüffeln und wurden durch einen grellen, triumphierenden Schrei gekrönt. Ein Schrei, dessen Klang den Inbegriff aller tierischen Bosheiten widerspiegelte. Winwood lief es kalt über den Rücken und er hoffte, daß diese schreiende Kreatur nicht auch noch klettern konnte. Das Schmatzen, Knacken und Schnüffeln dauerte den Rest der Nacht an und endete erst mit den ersten Anzeichen der Morgendämmerung. Aber auch als der Tag schon vollends angebrochen war, wagte sich Winwood nicht von seinem Baum. Was immer sich letzte Nacht in der Ruine herumgetrieben hatte, mochte sich vielleicht noch hier in der Gegend aufhalten, und er hatte nicht die geringste Lust, einem solchen Wesen zu begegnen.
Von seinem Baum aus konnte Winwood auch die Landstraße überblicken, die an dem Gasthaus vorbeiführte. Mitten auf dieser Straße, noch eingehüllt in einigen tiefhängenden Schwaden Morgennebels, ritt ein Mann auf die Ruine zu. Den Verdacht, daß dieser Reiter auch in den Diensten Thardans stehen könnte, vermochte Winwood, angesichts der Ruine vor ihm, nicht aus seinen Gedanken zu verdrängen, trotzdem erleichterte ihn dessen Auftauchen. Der Reiter erreichte die geschwärzten Ruinen und verschwand dazwischen. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf, schwang sich auf sein Pferd und schickte sich an, weiterzureiten. Nun hielt Winwood es nicht länger aus und kletterte so schnell er konnte über die knorrigen Äste der Eiche aus seinem Versteck. Mit beiden Armen winkend rannte er auf den Reiter zu. Während er dessen Pferd hinterherrannte, erhaschte er einen Blick auf das Innere der Ruine.
Der flüchtige Eindruck, den er durch diesen Blick gewann, sollte ihn noch lange Zeit im Traum verfolgen. Das von Thardans Schergen verursachte Gemetzel war von irgendwem oder irgendetwas als eine Einladung angesehen worden. Keine der Leichen war noch dort, wo sie am Vortag gelegen hatte. In der Mitte der Ruine erhob sich ein Berg aus Knochen, die in der Morgensonne fettig zu glänzen schienen und an einigen Stellen noch rot und feucht schimmerten. Die Basis dieses Knochenhaufens wurde von einem Ring aus Schädeln gebildet, denen allesamt der Oberkopf zerschmettert worden war.
Winwood fröstelte und rannte weiter winkend und rufend hinter dem Reiter her, der nun endlich Notiz von ihm zu nehmen schien. Er stoppte sein Pferd und drehte sich halb im Sattel um. Erstaunt registrierte Winwood, daß der Mann nicht nach dem gefährlich ausschauenden Rapier griff, das von seiner Hüfte baumelte. Leicht außer Atem hielt Winwood etwa zehn Meter vor dem Reiter an, blickte diesem geradeaus ins Gesicht und stellte sich vor. Der Mann auf dem Pferd hatte die besten Tage seines Lebens wohl schon hinter sich. Unter einem breitkrempigen Hut aus dunkelgrünem Filz, der mit einer ausladenden weißen Feder verziert war, quoll eine Flut gewellten grauen Haares hervor, das dem Mann wie eine weiße Löwenmähne über die Schultern reichte. Das linke Auge wurde durch eine schwarze Augenklappe verdeckt. Unter dem braunen Umhang, den der Fremde trug, konnte Winwood einen schwarzen Lederanzug mit vielen kleinen Taschen erkennen.
Nachdem Winwood dem Reiter von dem blutrünstigen Überfall auf die Taverne erzählt hatte, dabei jedoch den Umstand seiner erstaunlichen Reise verschwieg, fuhr dieser sich mit der behandschuhten Rechten durch seinen voluminösen, ausladenden grauen Bart und nickte. Ohne ein Wort zu sagen, bedeutete der Grauhaarige Winwood, ihm zu foIgen, wendete sein Pferd und ritt langsam voraus. Winwood folgte ihm klaglos. Auch als sie wenig später von der Straße abbogen und sich auf verschlungenen Pfaden durch das Unterholz kämpften, sagte Winwood kein Wort.

Nach einer langen Wegstrecke durch dichten Wald gelangten sie zu einem ausgedehnten Talkessel, der unvermittelt vor ihnen auftauchte. Der Kessel mochte vielleicht drei Kilometer durchmessen und hatte fast exakt die Form eines Kreises. In der Mitte des Kessels erstreckte sich ein Wald, der schon aus dieser Entfernung sehr dicht und dunkel aussah. Aus diesem Wald erhob sich eine schroffe Klippe, die auf der Ostseite fast bis zu ihrer Spitze mit Gehölz bedeckt war. Auf den anderen Seiten fielen die Felswände steil und glatt ab. Die Spitze dieser Klippe, die flach und bewaldet war, ragte nicht über die den Talkessel umgebenden Wälder und Felswände hinaus. Man konnte diesen Ort nur aus der Luft finden, oder wenn man den Weg dorthin genau kannte. Wenn man sich verstecken wollte, dann war dies der richtige Ort.
Der folgende Abstieg in den Kessel erwies sich als regelrechte Klettertour, aber trotz des gefährlichen Weges stieg der Grauhaarige nicht von seinem Pferd, welches jeden Tritt mit instinktiver Sicherheit fand. Sie durchquerten den Kessel und betraten den Wald. Stetig ansteigend hob sich der Waldboden dem Fuß der Klippe entgegen. Der Alte schlug einen kaum sichtbaren Pfad ein, der sich in östlicher Richtung durch den dichten, uralten Baumbestand wand. Der Weg führte sie zu der östlichen Seite der Klippe. Immer öfter brach die Humusschicht des Bodens auf, um den Blick auf weißes Kalkgestein freizugeben. Je höher sie stiegen, desto lichter wurden die Baumkronen, und das letzte Stück Weg hinauf zum Klippenplateau führte über einen schmalen, steilen und unbewachsenen Grat. Das Plateau war nicht groß und auch nicht ganz eben, aber durch den dichten Baumbewuchs in seiner Mitte sehr unübersichtlich. Der Grauhaarige führte Winwood geradewegs in das dichte Gehölz, das sich aber schon nach wenigen Schritten ein wenig lichtete. Winwood konnte erkennen, daß mitten auf dem Plateau, durch den Wald versteckt, ein alter, wehrhafter Turm stand.
Wie es schien, wohnte der alte Mann hier. Tatsächlich stieg dieser von seinem Pferd ab und führte dieses zu einem gemauerten Stall, der sich seitlich an die Turmwand schmiegte. Er band sein Pferd an die Mauer des Stalls, setzte seinen Hut ab, blickte an der Außenwand des Turmes hinauf und rief mehrmals laut nach einer Person namens Jordrak. Daraufhin erschien ein Mann, dessen Haar ebenfalls grau war. Aber während der Reiter, obwohl er offensichtlich schon älter war, einen frischen, kräftigen Eindruck machte, ging Jordrak gebeugt. Er begrüßte Winwood und den Reiter freundlich, ging an dem Grauhaarigen vorbei, löste den Strick, mit dem das Pferd an die moosige Steinwand gebunden war und führte es in den Stall. Der Grauhaarige winkte Winwood, ihm zu folgen und betrat den Turm durch ein schmales, aber hohes Portal.
Das Innere wurde durch ein Feuer, das in einem großen steinernen Kamin loderte, erleuchtet und erwärmt. In der Mitte des Raumes, dessen Boden aus groben Dielen gezimmert war, stand ein großer Tisch. Hölzerne Bänke dienten als Sitzgelegenheit. Der Rest des Raumes lag im Zwielicht, so daß Winwood bei weitem nicht alles erkennen konnte, was da so an den Wänden aufgereiht oder aufgehängt worden war. Zumindest konnte er sehen, daß sich gleich neben dem Kamin eine steinerne Treppe von der Turmwand bis zur Decke emporschwang. Der Grauhaarige bedeutete Winwood immer noch wortlos, sich zu setzen, dann holte er aus einer der zahllosen herumstehenden Schränke einen zerbeulten Blechnapf, füllte diesen mit einer Brühe, die in einem Kessel über dem Kaminfeuer kochte und stellte den Napf zusammen mit einem grossen Stück Brot vor Winwood auf den Tisch. Dann setzte er sich ihm gegenüber an den Tisch und sagte: "Mein Name ist Naristos". Und nach einer kleinen Pause: "Und wie soll ich Dich, den Weltenwanderer, nennen?" Winwood, der erst angesichts der heißen, duftenden Suppe gemerkt hatte, wie groß sein Hunger war, verschluckte sich beinahe bei diesen Worten. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er Naristos mit großen Augen an und fragte: "Was wissen Sie darüber?"
"Mehr als mir lieb ist. Als ich heute an der Herberge, oder an dem, was davon übrig geblieben ist, vorbeiritt, war ich auf der Suche nach Dir."
"Dann haben Sie bestimmt schon einmal etwas von einem gewissen Thardan gehört?" Kaum war dieser Name gefallen, verfinsterte sich Naristos Miene. "Wenn es in dieser Welt etwas gibt, was Dich hierher geholt haben könnte, dann Thardan."
"Aber warum?" fragte Winwood.
"Ich glaube, es ist an der Zeit, Dir einige Erklärungen für einige recht sonderbare Ereignisse zu geben. Sicherlich wirst Du vieles von dem, was ich Dir nun erklären werde, spontan als Unsinn bezeichnen, doch bitte ich Dich, Deinen Unglauben erst einmal für Dich zu behalten und meine Geschichte bis zum Schluß anzuhören."
"Nun...", erwiderte Winwood, "ich wurde aus einem Mittagsschlaf in eine fremde Welt versetzt, das erweitert den Horizont ungemein."
Ein wenig verwirrt durch die spontane Redewendung, die Winwood gebraucht hatte, schüttelte der Grauhaarige den Kopf. Aber als Winwood nichts weiter sagte, fuhr er sich mit der Hand durch den Bart und begann zu erzählen. "Wie Du als Reisender zwischen zwei Welten selbst schon feststellen konntest, gibt es mehr als eine Welt, die die Menschen, die darauf leben, Erde nennen. Alle diese Welten existieren auf eine für uns unbegreifliche Art nebeneinander, vielmehr sogar an ein und derselben Stelle, ohne sich nahe zu kommen oder einander gar zu berühren. Es ist sogar unmöglich, von einer Welt auch nur irgendeine andere Welt namens Erde zu sehen. Auch wenn man ein Teleskop bauen würde, das durch das ganze Universum spähen könnte, würde die Suche ergebnislos verlaufen. Und doch gibt es Tore, durch die man zu anderen Welten gelangen kann. Aber diese Tore darf man sich nicht etwa wie einfache Türen vorstellen, die jedermann öffnen kann. So wie jede Welt sich auf irgendeine Art und Weise von allen anderen unterscheidet, so sind auch die Methoden, mit denen ein Weltentor geöffnet werden kann, von Welt zu Welt verschieden. Es gibt Welten, in denen die Zeit langsamer verstreicht als hier bei uns, in anderen hat die Geschichte die sonderbarsten Entwicklungen hervorgebracht. Aber auf irgendeine sonderbare Weise stehen alle Welten in einem eigenartigen Wechselspiel zueinander. Was hier Märchen, Sage oder Legende ist, ist anderswo Geschichte. Sicherlich tauchen viele unserer geschichtlichen Helden und Unholde in anderen Welten als Märchen auf. Jedem Wanderer, der eine neue Welt betritt, haftet vieles aus seiner alten Heimat an - keine Dinge, die mit Augen gesehen oder mit Händen gefühlt hätten werden können, und trotzdem sind sie gegenwärtig."
Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort. "Zu allen Zeiten haben sich Menschen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bemüht, das Rätsel der Tore, der Welten und der Weltenwanderer zu entschleiern. Hier in dieser Welt sind schon einige Male Menschen einer anderen Erde gewesen, doch sie sind nicht wie Du in ein paar Fetzen gehüllt vom Baum gesprungen. Sie kamen in schwebenden Kugeln, die leuchteten, als seien sie von tausend Kerzen erhellt. Sie notierten, beobachteten, registrierten und verschwanden wieder. Niemals hatte jemand Nachteil oder gar Schaden durch ihr Auftauchen. Aber das, was Dir wiederfahren ist, kann nicht ihr Werk gewesen sein. Das war das Werk eines Bewohners dieser Welt. Es könnte sein, daß jemand Dich hierher brachte, um das, was Du aus Deiner Welt mitbrachtest, für sich zu benutzen. Sicherlich hätte dieser Jemand Dich gleich in Ketten gelegt, wenn er Deiner habhaft geworden wäre. Aber da scheint ja glücklicherweise einiges schief gegangen zu sein."
Der Alte schien seine Erzählung beendet zu haben, denn er hatte die Hände vor sich auf den Tisch gefaltet und blickte hinüber zu Winwood.
"So unglaubwürdig hört sich das doch gar nicht an" sagte er. "Nur die Sache mit diesem unsichtbaren Etwas, das Reisende zwischen den Welten bei sich tragen, verstehe ich nicht so ganz."
"Nun, in unserer Welt gibt es Elementargeister, Trolle, Feen, Wiedergänger und viele andere Dinge und Wesen, die in Deiner Welt nur als Legenden und Märchen existieren. Magie ermöglicht es, viele dieser Wesen und Kräfte zum eigenen Vorteil einzusetzen. So gibt es hierzulande zwar eine Eisenbahn, die wird aber nicht durch eine Dampfmaschine angetrieben. In der Lokomotive ist ein Elementargeist eingeschlossen, dessen Kraft sie antreibt. Würdest du versuchen, eine Lokomotive zu bauen, die mit einer Dampfmaschine wie du sie kennst angetrieben wird, Du würdest keinen Meter weit kommen. Das Wasser würde heiß werden und verdampfen, aber der Dampf würde keinen Druck entwickeln. Genauso kannst Du hierzulande zwar Schwarzpulver mischen, das zischt und knallt, aber Schießpulver würde bei keinem Mischverhältnis daraus. Mit dem, was Du aus Deiner Welt mitbrachtest, kann Thardan viele Dinge bauen, die sonst nie funktionieren würden."
"Wer ist denn dieser Thardan überhaupt?" fragte Winwood etwas unbehaglich.
Die Miene des Alten verfinsterte sich erneut, als er die Frage von Winwood vernahm. "Das ist eine sehr schwierige Frage, die Du mir da stellst. Niemand hat diesen Magier je zu Gesicht bekommen, jedenfalls niemand, der noch am Leben ist. Dennoch ist er in seltsamer Weise für alle Bewohner unserer Welt stets gegenwärtig. Er verfügt über eine unglaubliche magische Macht, mit der er alle Wesen unter seiner ständigen Kontrolle hält. Und alle Kreaturen, die sich jemals gegen ihn aufgelehnt haben, mußten dies sehr bitter bereuen. Er erscheint zwar nie persönlich, doch verfügt er, über eine riesige, unerschöpfliche Armee von Schergen, die er mit seinen magischen Fähigkeiten erschaffen hat."
Mit einem langen Blick auf Winwood, der sich immer unbehaglicher fühlte, fuhr er fort. "Wie Du siehst, befindest Du Dich in sehr großer Gefahr. Über kurz oder lang wird Thardan erfahren, wo Du Dich befindest. Und falls er Deiner habhaft werden sollte, könnte dies sowohl für Dich, als auch für uns schreckliche Konsequenzen haben."
Winwood überkam der unbändige Wunsch, sich irgendwo zu verstecken und zu warten, bis dieser schreckliche Alptraum zu Ende wäre. Er gab sich einen Ruck und wandte sich wieder an Naristos. "Aber was kann ich tun, um wieder zurück in meine Welt zu kommen?"
"Nun, ich glaube nicht, daß es einen einfachen Weg zurück gibt", erwiderte Naristos mit einem Bedauern in der Stimme, "Du bist jetzt ein Teil unserer Welt geworden, so leid es mir auch tut. Und der einzige, der dies wieder rückgängig machen könnte, wäre Thardan. Aber ich bezweifle, daß er Dir helfen würde, jedenfalls nicht freiwillig. Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als die Probleme unserer Welt zu Deinen Eigenen zu machen. Vielleicht wird es uns mit Deiner Hilfe gelingen, endlich einen Weg zu finden, der es uns ermöglicht, die Schreckensherrschaft von Thardan zu beenden."
"Aber was kann ich schon ausrichten", erwiderte Winwood zweifelnd, "Ich bin nur ein normaler Mensch, der sich noch dazu in einer verzweifelten Lage befindet. Wie soll ich Euch gegen einen übermächtigen Magier beistehen?"
"Vergiß nicht die geheimnisvolle Kraft, die Du mit auf unsere Welt brachtest", entgegnete der Alte aufmunternd, "Wenn Thardan soviel daran liegt, diese Kraft in sich aufzunehmen, dann wird sie Dir vielleicht auch helfen, etwas gegen ihn zu unternehmen."
"Doch nun ist es Zeit für Dich zu gehen", fuhr der Alte fort. "Du darfst Dich nicht zu lange an einer Stelle aufhalten. Vergiß niemals, daß Thardan alles tun wird, um Deiner habhaft zu werden. Seine Schergen sind überall, und wenn Du Dich nicht vorsiehst, werden sie Dich finden."
"Begebe Dich zuerst nach Larvin und tauche dort unter. Versuche, einige Gefährten zu finden, denn alleine wirst Du nicht weit kommen Viel Glück, Winwood!"
Mit diesen Worten verabschiedete sich der Alte und verließ den Raum. Winwood sah sich noch einmal um, dann öffnete er die schwere Eingangstür und trat ins Freie, um sein Schicksal zu erfüllen.